Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

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Dokument Nr. 33

3. Die Administration der evangelischen Kirche

Evangelisches Zentralarchiv (EZA),
5/2732

Datum: 11. August 1933
Verfasser: anonymer evangelischer Pastor aus der Krim
Empfänger: wohl Deutscher Evangelischer Kirchenausschuss
Inhalt: Ein evangelischer Geistlicher schildert die drückende Hungersnot und die politische Verfolgung der Kirchen auf der Krim und beklagt die Untätigkeit des Auslandes angesichts dieser Missstände.

11.8.1933
 
Notbrief eines Pfarrers aus der Krim
 
Sehr geehrter Herr Dr. Schröder!
 
Da ich gegenwärtig Pfarrer Lohrer, der eine Reise nach Sibirien unternommen hat, vertrete, so drücke ich Ihnen in seinem Namen und im Namen aller derjenigen, denen sie bereits Hilfe erwiesen haben, meinen innigsten Dank dafür aus. Möge der allmächtige Gott Ihnen und allen den freundlichen Spendern vergelten, was Sie an uns getan haben! Es ist ja für uns sehr peinlich, immer und immer wieder um Hilfe zu bitten, doch unsre Lage ist dermassen traurig, dass uns leider kein andrer Weg übrig bleibt. Alles Arbeiten ist ja vergeblich, denn man verdient sich eben nicht mal sein täglich Stückchen Brot. Wohl verspricht die Ernte hier in der Krim gut zu werden, allein das gibt uns eben lange noch kein Brot. Wenn die Lage in der Krim noch einigermassen erträglich ist, dem hier kam es nur selten vor, dass jemand am Hunger bereits gestorben ist, so ist die Lage in meinem eigenen Kirchspiel einfach tragisch. Ich bediene das Kirchspiel M……. [sic!] im Nordkaukasus. Es bestand früher aus 23 Gemeinden, von denen nun aber bereits einige ganz liquidiert sind. Schrecklich sind die Zustände, die dort herrschen. Ich kann und darf Ihnen ja das nicht ausführlich beschreiben, doch um Ihnen nur einen Begriff über unsre Not zu geben, kann ich Ihnen sagen, dass man bereits so weit ist, dass allerlei Aas, wie: krepierte Pferde, Hunde, Katzen, Mäuse mit Heisshunger verzehrt werden. Ja die sogenannten „Kulaken“ haben nicht mal das Recht, sich von einem krepierten Pferde etwas zu nehmen, dieses Privilegium gehört nur den aktiven Arbeitern in der Kollektive. In einem Dorfe, dessen Namen ich aus gewissen Gründen nicht nennen kann, wurde das krepierte Pferd eingesalzen und im Frühling verteilte man das Fleisch auf die Arbeitstage. In einer andern Kollektive schleppte man das Fleisch von einem gefallenen Pferd sofort auseinander und verzehrte es. Auch die Haut und Eingeweide worden nicht weggeworfen. Da aber kam die Miliz und stellte ein Protokoll auf, da man das Gesetzt vom 7. August übertreten hätte, denn die krepierten Pferde sind Eigentum des Staates, der hat sie nötig, um seine Schweine zu füttern, folglich hatten die Leute kein Recht, dieselben zu verzehren. Dass unter solchen Verhältnissen schon hunderte von Menschen ja sogar ganze Dörfer fast ganz ausgestorben sind, können sie wohl begreifen. Dabei werden die Leute Tag und Nacht mit der Arbeit gequält. Da dort kein Sonn- und Feiertag mehr gehalten worden. Seit dem Frühling haben die armen Menschen keinen Ruhetag mehr gehabt. Wehe dem, der es wagen wollte, sich zu widersetzen. Sibirien, der Ural sind ihm dann gewiss. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist vollständig ruiniert. Die Männer sind verschickt, oder schmachten in den Gefängnissen, während die Familien allmählich verhungern müssen. Furchtbare Zustände herrschen in den Gefängnissen. Die Leute bekommen im Winter nur 50-100 Gramm Brot, sonst nichts, nicht mal genügend Wasser. Massenhaft starben sie, Krankheiten brachen aus und man sah sich veranlasst, die Lage etwas zu verbessern. Täglich erhielt ich Post aus den Gefängnissen, herzzerreißende Briefe mit der Bitte, doch wenigstens Kartoffelschalen oder sonst etwas zu schicken, damit die Leute nicht umkommen müßten. Soviel in meinen Kräften stand, habe ich den Leuten geholfen, aber leider waren meine Mittel eben auch sehr beschränkt und ausserdem dürfen wir ja gar niemand Hilfe erwoisen [sic!]. Trotzdem habe ich mich keinen Augenblick gescheut vor der Gefahr, sondern habe Hilferufe ins Ausland ergehen lassen. Leider habe ich aber bisher nur wenig leisten können, denn die Briefe gingen wohl zum größten Teil verloren. Doch ist es mir gelungen, einige Hilfe zu erhalten. Ich verteilte dieselbe unter meine Gemeinde[mit]glieder, aber es ist das eben leider alles zu wenig. Es zerreißt einem das Herz, wenn man zusehen muss, wie die Gemeinden allmählich zugrunde gehen. Hunderte sind bereits am Hungertode gestorben, Hunderte sind geschwollen und müssen elendiglich umkommen, wenn nicht bald Hilfe erscheint. Ach es ist manchmal fast zum Verzweifeln! Mit grosser Begeisterung haben wir endlich die Nachricht vernommen, dass man in D. endlich anfängt, sich für uns zu interessieren, dass man bereit ist, uns zu helfen. Aber sofort setzte auch hier die Reaktion ein. Man hielt Versammlungen ab in den deutschen Dörfern, und die armen Menschen wurden gezwungen, sich von der Hilfe loszusagen, ja sogar Spenden werden gesammelt, um den Hungernden in D. zu helfen. Es wäre licherlich [lächerlich], wenn es nicht zu niederträchtig wäre! Dabei müssen die Leute mitten in der Ernte verhungern. In meinem Kirchspiel ist ausserdem dieses Jahr eine vollständige Missernte. Die Pläne können nicht mal ausgefüllt werden. Brot gibt es also wieder keins. Was weiter werden soll, kann ich mir nicht vorstellen. Über dem Elend der Gemeinden vergisst man die eigene Not. Und zwar sind es nicht nur materielle Sorgen, die einen drücken, sondern der moralische Druck, der beständig auf einem lastet, richtet einen zugrunde. Jeder unserer Schritte wird beständig bewacht. Beständig wird man verklagt, verleumdet, herumgeschleppt. Ich sass bereits zweimal im Gefängnis. Wenn ich nicht nach dem Ural kam, so war das einfach ein Wunder Gottes. Schreckliches hatte ich durchzumachen gehabt. Jedoch der allmächtige Gott stärkte mich. Ich wurde befreit und konnte bisher auf meinem Posten beharren. Alle möglichen Hindernisse legt man uns in den Weg, um uns in unserer Arbeit zu verhindern. Fuhren gibt man uns schon längst keine mehr, um die Gemeinden zu bedienen. Aber ich gehe zu Fuss, von Dorf zu Dorf. Manchmal 50-60 Worst [Werst] weit im Regen und Schmutz. Im Winter ist das natürlich unmöglich. Unwillkürlich kommt einem manchmal der Gedanke: es ist alles verloren, gib es auf. Aber wenn man sich dann wieder stärkt im Gebet, so erhält man neue Kräfte und kann sein Elend weiter tragen. In letzter Zeit geht man diplomatischer gegen uns vor. Mich liess man zu den drei Buchstaben [Fußnote: G.P.U.] kommen und schlug mir vor, mein Amt aufzugeben. Dafür versprach man mir einen guten Dienst und alle Rechte eines Sowjetbürgers, während wir ja jetzt nur Pflichten haben. Man gab mir Zeit bis zum 10. Juni, widrigenfalls drohte man mir, mich zu liquidieren. Man kannte nämlich moine [sic!] Lage genau und wußte, dass ich im Begriff stand, mich zu verehelichen. Nun gab man mir zu verstehen, dass man mich von meiner Braut trennen wird, wenn ich ihren Vorschlag nicht annehmen werde. Ich fuhr am 10. Juni nach Hause, in die Krim, und liess mich hier von Pastor L … [sic!] trauen. Da Pastor L … [sic!] weggefahren ist, so werde ich ihn hier vertreten bis Anfangs September. Dann kehre ich wieder nach M. zurück. Was man dann mit mir machen wird, weiss ich nicht. Doch mir ist das egal. Mein Amt werde ich nicht aufgeben, auch wenn ich wieder ins Gefängnis oder nach dem Ural wandern muss. Und das nennt man „Religionsfreiheit“. Ach es ist eine satanische Macht, die mit einem furchtbaren Lügennetz alles umstrickt hat, und niemand ist imstande, dieses Lügennetz zu zerreisen. Wir werden wohl noch alle umkommen müssen, denn der Winter steht bereits vor der Tür und vom Auslande wird man wohl auch nicht auf die Dauer unterstützt werden können. Dass man jedoch anfängt, sich für uns zu interessieren, das hebt und stärkt unsre Kräfte und gibt uns neuen Mut und Kraft, unsre Arbeit weiter zu führen. Ach, es ist so schwer, dass man sich niemals aussprechen darf. Es wäre moine [sic!] höchste Freude, wenn Sie doch diesen Brief erhalten würden. Wohl bin ich mir bewusst, dass ich vielleicht zu offen war, allein wo es sich um das Wohl und Wehe moiner [sic!] Gemeinden handelt, da kann ich nicht mehr schweigen. Ich möchte es vielmehr in die ganze Welt hinausrufen, dass man sich unsrer doch endlich erbarmen möchte. Ja, möge kommen, was da will. Es wäre ein Verbrechen, wenn wir Pastoren länger schweigen würden. Ich will lieber ausrufen mit unsrem Vater Martin Luther: „Ich kann nicht anders, Gott helfe mir.“ Helfen Sie uns nicht nur materiell, sondern sorgen Sie doch, dass man uns nicht behandelt, wie die gemeinsten Verbrecher behandelt werden. Wo bleibt denn die Völkerliga, die die Rechte der nationalen Minderheiten schützen sollte? Warum spricht die ganze Welt über die Judenverfolgung in D., während wir hier schon jahrelang aufs schrecklichste gepeinigt werden. Warum denkt niemand daran, mal eine Kommission zu senden, um unserer Lage zu untersuchen, wie das überall getan wird, sobald ein Notschrei an die Öffentlichkeit gelangt? Warum schweigt die ganze Christenheit zu der furchtbaren Verfolgung, die hier stattfindet? Oder sollte das wirklich schon das Ende aller Dinge sein, wie viele ernste Christen behaupten? Ach, wir wollen ja weiter nichts als menschliche Verhältnisse. Helft uns, diese herbeischaffen. Nun möchte ich meinen Brief schliessen mit der Bitte, doch Ihre Hilfe auch meinen Gemeinden und mir persönlich zuteil werden zu lassen. Meinen herzlichsten Dank dafür im Voraus.
 
Mit herzlichem Gruß
………………

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 33, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=33, abgerufen am: 29.03.2024.
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