Dokument Nr. 58
Deutsche Botschaft, Moskau, den 4. April 1934
An das Auswärtige Amt, Berlin.
Gleichzeitig mit den nachfolgenden Anforderungen von Mitteln für die deutsch-evangelische und deutsch-katholische Kirche in der Sowjetunion legt die Botschaft dem Auswärtigen Amt einen Bericht über die kulturpolitischen Anforderungen für das neue Rechnungsjahr vor, in dem auch das Gebiet der Kunst entsprechend dem seinerzeit übermittelten Berichtsschema behandelt worden ist. Mit Rücksicht darauf, dass die künstlerischen Angelegenheiten vom Reichsministerium für Aufklärung und Propaganda bearbeitet werden, geht der Bericht dem Auswärtigen Amt in 5 Exemplaren zu, wovon ich bitte, 2 Exemplare dem Propagandaministerium weiterzuleiten. Eine Teilung des Berichts empfahl sich nicht, da eine Anforderung von Mitteln für künstlerische Zwecke lediglich im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Deutschen Kunstgesellschaft gemacht worden ist.
Bevor ich die materiellen Wünsche ausspreche, deren Befriedigung ich zur Stützung der kirchlichen Interessen für erforderlich erachte, erscheint es mir notwendig, mit kurzen Worten die augenblickliche Lage der Kirche auf dem Gebiete der Sowjetunion zu umreissen:
Wenn die Botschaft in einem umfassenden Bericht vom 26.11.1932 E/603 sagen konnte, dass die Gewaltmassnahmen gegen die Kirche durch ein der Form nach milderes System abgelöst seien, nachdem die Kirche nicht mehr als unmittelbar staatsgefährliches Element in Betracht käme, so lässt sich diese Auffassung jetzt nicht mehr aufrechterhalten. Seit dem Herbst 1933 ist eine grössere Anzahl von Verhaftungen erfolgt, deren Höhepunkt die Festnahme des Propstes Birth in Charkow Mitte Januar d.J. [diesen Jahres] bildet. Propst Birth war neben den beiden Bischöfen in Moskau und Leningrad die Hauptstütze der evangelisch-lutherischen Kirche in der Union. Die Verhaftungen, die nicht allein in deutsch-stämmigen Kreisen, sondern auch in der polnischen und der russisch-orthodoxen Kirche vorgenommen wurden, zeigen nicht nur den unentwegten Entschluss der Sowjetregierung, die Kirche auszurotten, sondern auch das Bestreben, dies möglichst schnell zu erreichen. Soweit die Verhaftungen nicht damit zusammenhängen, dass den Betreffenden unerlaubter Verkehr mit dem Auslande zum Vorwurf gemacht werden konnte, passen sie in dem zweifellos vorhandenen Plan hinein, die Kirche und ihre Organisationen in einer bestimmten Zeit endgültig zu vernichten.
Die Stellung des Bischofs Malmgren in Leningrad scheint noch gesichert zu sein, zumal Botschafter Chintschuk wiederholt beruhigende Erklärungen hierüber abgegeben hat. Trotzdem trägt sich der Bischof ernstlich mit der Absicht, das Predigerseminar und damit seine eigene Stellung in Leningrad aufzugeben. Ich habe den Generalkonsul Sommer gebeten, auf Herrn Malmgren einzuwirken, um ihn zu veranlassen, die Schliessung des Seminars noch möglichst hinauszuschieben. Dabei scheint meine in dieser Angelegenheit erfolgte vorsichtige Fühlungnahme mit dem amerikanischen Botschafter Bullitt auf den Bischof nicht ohne Eindruck geblieben zu sein. Überhaupt ist die Frage, ob Bischof Malmgren aushält, [ist] naturgemäss engstens damit verbunden, ob es gelingt, die finanziellen Unterstützungen aufrechtzuerhalten und noch mehr als bisher diejenigen Staaten, deren kirchliche Organisationen mit ihm in Verbindung stehen, für die Aufrechterhaltung der Kirche in der Sowjetunion zu interessieren. Ähnliches gilt auch für die Persönlichkeit des Bischofs Meyer, obwohl dieser die Absicht, seine Stellung aufzugeben, noch nicht geäussert hat. Seine Gesundheit ist aber, besonders in der letzten Zeit seit der Verhaftung seines Sohnes, so zerrüttet, dass mit seinem völligen Ausscheiden als Präsident des Oberkirchenrats in Moskau jederzeit gerechnet werden muss.
Wenn die beiden Bischöfe ausfallen bezw. auswandern, wird die Möglichkeit der Erhaltung der evangelisch-lutherischen Kirche noch problematischer. Die Organisation wird dann in der bisherigen Form kaum aufrechterhalten werden können. Eine Ausnahme hiervon werden lediglich die grösseren Gemeinden in den grossen Städten bilden. Aber auch hierin machen sich neuerdings bedenkliche Anzeichen bemerkbar. So ist kürzlich der Vorsitzende des Kirchenrates der St. Petri-Pauli-Kirche in Moskau, H e l m s , verhaftet worden. Ferner wurden in den letzten Monaten in der Provinz mehrere Küster verhaftet.
Bei der römisch-katholischen Kirche ist durch die Verhaftung von polnischen und deutschstämmigen Geistlichen das religiöse Leben ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen.
Bei alledem wird aber nach aussen insofern der Schein gewahrt, als die bisher in Haft befindlichen Pastoren und Patres nach Abbüssung ihrer Strafe, teilweise sogar unter Anrechnung geleisteter Mehrarbeit, wieder in Freiheit gelassen werden. Allerdings dürfen sie fast niemals in ihre alten Kirchspiele zurückkehren, wozu die Bestimmungen des Passgesetzes eine Handhabe bieten. So bekommt Propst Wacker, der als Hauptlehrkraft am Leningrader Seminar beschäftigt war, neuerdings nicht die Erlaubnis, dort zu wohnen, sondern muss ausserhalb der 100-km-Zone bleiben, während seine Frau in Leningrad sich aufhalten darf.
In dieser Lage, die durch eine fortdauernde Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen der noch amtierenden Geistlichen ihre charakteristische Prägung erhält, ist das Problem der Unterstützungen naturgemäss von besonderer Bedeutung. Diese Unterstützungen müssen noch systematischer als bisher verteilt werden, wobei zwischen amtierenden Geistlichen und solchen, die nicht mehr im Amte bezw. verhaftet und verschickt sind, sorgsam zu unterscheiden ist. Für noch amtierende Pastoren wird eine regelmässige Zahlung in Aussicht genommen werden müssen. Da aber zur Begleichung der Steuerforderungen auch Rubelbeträge erforderlich sind, so werden der Botschaft und den konsularischen Vertretungen auch Beträge zur freien Verfügung überlassen werden müssen.
Das System der Torgsinsendungen durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes hat sich weiter bewährt. Auf diese Weise ist die Botschaft auch in der Lage, Angaben über den Aufenthaltsort der Geistlichen nachzuprüfen bezw. festzustellen, ob sie noch am Leben sind.
Wesentlich erscheint mir, dass die Gelder des Gustav Adolf-Vereins bezw. des Caritas-Verbandes lediglich auf dem Wege über die Botschaft bezw. über die zuständige konsularische Vertretung weitergeleitet werden, da ein unmittelbarer Schriftverkehr mit dem Auslande für die einzelnen Gemeinden Gefahren mit sich bringt.
Unter Berücksichtigung der konsularischen Anforderungen würde sich der für die Pflege des evangelischen Deutschtums im Jahre 1934 erforderliche Betrag auf RM 13 500.- errechnen. Die Verteilung ergibt sich wie folgt:
Moskau RM 5 000.
Leningrad erhält unmittelbar Unterstützungen
Charkow | RM | 1 500 |
Tiflis | " | 3 000 |
Odessa | " | 1 500 |
Kiew | " | 1 500 |
Wladiwostok | " | 1 500 |
Hiermit ist zu bemerken, dass der für Moskau und Tiflis im vergangenen Jahre angeforderte Betrag nicht überwiesen worden ist. Kiew hat von dem obenangeforderten Betrag bereits 900.- RM erhalten, so dass nur noch 600.- RM erforderlich sind. Die Zahlung nach Wladiwostok ist mit Rücksicht auf die Notlage der dortigen Kirche besonders dringend, so dass gebeten wird, jedenfalls einen Teilbetrag sofort dorthin zu überweisen.
Für die deutsch-katholische Kirche möchte ich unter Berücksichtigung der überaus bedrängten und gänzlich isolierten Lage auch der amtierenden Geistlichkeit einen Betrag von RM 6 000.- zur Verfügung der Botschaft und "1 500.-" des Konsulats in Odessa erbitten. Indem ich die Bewilligung dieser Beträge dringend befürworte, möchte ich nochmals auf den ausserordentlichen Ernst der Lage hinweisen, in der sich die deutschstämmige Kirche in der Sowjetunion heute befindet.
Es scheint, dass diese Lage hoffnungslos ist. Aber die Verantwortung, die auf uns fiele, wenn wir die kirchlichen Organisationen und damit einen Teil der kulturellen deutschen Güter hier ohne Kampf preisgäben, ist so gross, dass ihr gegenüber alle sonstigen Erwägungen zurücktreten müssen.
gez. Nadolny