Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

Dokument Nr. 41

4. Die große Hungersnot 1932/33

Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1924-1935),
Pos. Scat. 28,
Fasc. 185,
Fol. 30r-36r

Datum: August 1933
Verfasser: Päpstliche Kommission Pro Russia
Inhalt: Bericht über die Anzahl und Lage katholischer Gemeinden und Geistlicher, über die Kirche selbst und über das religiöse Leben in Sowjetrussland. Anbei zwei Listen deportierter Geistlicher und die Orte der Verschickung.

Abschrift zu VI W 7836
 
Streng vertraulich.
 
Die Lage der römisch-katholischen Kirche im Mittleren Wolgagebiet, insbesondere in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. (August 1933).
 
1. Seelenzahl. Auch aus den katholischen Gemeinden, die zu der Autonomen Republik der Wolgadeutschen gehören, waren unter dem Druck der schlechten Lebensverhältnisse in den Jahren 1930-1932 grosse Teile der Bevölkerung abgewandert, um in den Städten Arbeit und Brot zu finden. Die strengen Massnahmen gegen die Landflucht führten im Jahre 1932 etwa 60 000 wieder zurück. Inzwischen haben aber trotz aller Erschwerungen für die Abwanderung wiederum etwa 30 – 35.000 katholische Einwohner ihre Heimat verlassen. Jedoch besteht ein grosser Unterschied gegen früher. Während die Abwanderer in früheren Jahren Arbeit suchten und fanden, leben sie jetzt grösstenteils vom Betteln. Dieses Leben wirkt demoralisierend. Die Abwanderer werden oft zu Vagabunden, sie verlernen Zucht und Ordnung und kommen körperlich und moralisch herunter.
Die Zahl der in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen noch ansässigen Katholiken kann auf 20-25.000 geschätzt werden. Ihr Leben ist sehr schwer. Ueberall herrscht Hunger. Die Ernte ist zwar grossenteils nicht schlecht, jedoch fehlt es an Arbeitskräften, um sie einzubringen. Die Felder werden streng bewacht von Miliz mit scharf geladenen Gewehren. Trotz dieser Bewachung und trotz der drakonischen Strafen, die auf Diebstahl stehen, wird viel gestohlen. Die Aehren werden auf dem Felde mit Scheren und Messern abgeschnitten – die Diebe heissen deshalb in Volksmund „Friseure“ – und an Ort und Stelle verzehrt.
Der Hunger hat viele Opfer gefordert, die Abwanderung hat die Dörfer entvölkert. So sind z. B. aus dem Dorf Louis, das früher 6000 Katholiken zählte, über 4000 weggezogen. Im Laufe der letzten Monate sind 270 Menschen verhungert, ausserdem 300 weitere an Entkräftung gestorben. Das Dorf hat heute nur noch etwa 1.000 Katholiken.
In dem Dorf Wittmann, das 3 – 4.000 katholische Seelen zählte, sind 312 Personen an Hunger gestorben. Auch jetzt nach der Ernte sterben täglich noch etwa 5-6 Personen.
 
2. Katholische Geistliche. Wie schon im letzten Jahre sind in dem Gebiet 4 deutschstämmige katholische Geistliche tätig, nämlich:
Pater Bader Emmanuel in Louis
Pater Hermann Johannes in Saratow
Pater Dietrich Raphael in Preuss
Pater Brungart Michael in Hildmann
(Es handelt sich hierbei nicht um Ordensgeistliche. Die deutschstämmigen katholischen Geistlichen in Russland wurden in Analogie zu dem russischen „Batjuschka“ und dem französischen „Père“ immer mit „Pater“ bezeichnet, auch wenn sie keinem Orden angehörten.
Ausserdem hält sich zur Zeit in Saratow der bisher nach Turinsk verschickte Pater Staub Alexander, früher in Seewald, auf. Er ist auf der Suche nach einer neuen Gemeinde, in der er die Möglichkeit zur Arbeit hat.
Pater Bader und Pater Dietrich sind Ausgangs der 30, Pater Hermann ist Ausgangs 40, Pater Brungart Ausgangs 50, Pater Staub 60 Jahre.
Der 80jährige Pater Schneider Johannes lebt noch in Leichtling, Kanton Kamenka, kann aber keine geistliche Arbeit leisten.
Der 79jährige Pater Bach in Neu Obermonjou ist im März 1933 gestorben.
Der bisher verschickte Pater Schönheiter Klemens, über 60 Jahre alt, hält sich zur Zeit in Hildmann, Kanton Kamenka, auf.
In Saratow befindet sich auch der griechisch-unierte Priester Anissimoff und ein polnischer Geistlicher namens Slowitzki, der vor nicht langer Zeit aus der Verbannung auf den Solowetzki-Inseln zurückgekehrt ist. Slowitzki hält in der deutschen Kathedrale Gottesdienst für die Katholiken polnischer Zunge. Von Anissimoff wissen die Sowjetbehörden nicht mit Sicherheit, dass er Priester ist. Er wurde mehrmals festgenommen und verhört, aber wieder freigelassen. Zur Zeit kann er das Messopfer nur im Geheimen darbringen, da er stark überwacht wird.
Ein armenisch-unierter Priester namens Oganessianz, der vor kurzem aus dem Süden kam, ist an Entkräftung gestorben.
Die nach den Solowetzki-Inseln verschickten katholischen Geistlichen aus dem Wolgagebiet sind in der anliegenden Liste 1 aufgeführt, die verhafteten oder nach anderen Gegenden als den Solowetzki-Inseln verschickten Priester in Liste 2. Die Adressen sind angegeben.
Weiter nach Süden, in der Südukraine und im Kaukasus, sind noch etwa 20 deutschstämmige katholische Geistliche der Diözese Tiraspol tätig.
An der Lage der Geistlichen hat sich nicht viel geändert. Die Gemeinden sind nicht imstande, den notwendigen Unterhalt aufzubringen. Die Geistlichen lebten während der letzten Jahre fast ausschliesslich von den Unterstützungen, die ihnen durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes in Moskau zugingen. Es wird mit grösstem Nachdruck versichert, dass ohne diese monatliche Unterstützung die Geistlichen verhungern müssten. Auch die verschickten Geistlichen erhalten regelmässig Unterstützungen. Es liegen zuverlässige Nachrichten vor, dass die Unterstützungen tatsächlich ausgehändigt werden und dass sie für die Verschickten, insbesondere für diejenigen, die nicht in einem Lager sind, sondern selbst für ihren Unterhalt sorgen müssen, die einzige Hilfe und tatsächlich die Rettung vor dem Hungertod bedeuten.
In der Ausübung des geistlichen Amtes sind die Priester immer noch den grössten Beschränkungen unterworfen. Ein Geistlicher darf eine katholische Gemeinde nur nach ausdrücklicher staatlicher Genehmigung verwalten. Auf die bestehenden Arbeitsbestimmungen und Arbeitsbedingungen muss grösste Rücksicht genommen werden. In den kollektivisierten Dörfern muss der Gottesdienst sehr früh gelegt werden, damit die Teilnehmer rechtzeitig zu dem festgesetzten Zeitpunkt ihre Arbeit beginnen können.
Eine Verbindung mit der kirchlichen Hierarchie besteht nicht. Bischof  F r i s o n  (deutschstämmig), apostolischer Administrator der Krim, der, soviel bekannt ist, Verwalter der Diözese Tiraspol ist, lebt in Simferopol in der Krim in grösster Zurückgezogenheit. Er darf die Stadt nicht verlassen. Weisungen kann er nicht geben. Die Geistlichen in der deutschen Wolgarepublik stehen miteinander in loser Verbindung und beraten sich gegenseitig. Der betagte Prälat Krushinsky (deutschstämmig), früher in Karlsruhe, jetzt Speyer im Bezirk Odessa wohnhaft, steht seinen geistlichen Mitbrüdern im Wolgagebiet mit seinem erprobten Rat zur Seite. Aber auch er will keine Jurisdiktion ausüben und formell kein Amt übernehmen. Diese Haltung ist auch durchaus zweckentsprechend, da die Sowjetbehörden mit grösster Aufmerksamkeit darauf achten, ob sich in irgendeiner Form die Hierarchie wieder bildet. Sie würden wahrscheinlich jeden Ansatz dazu bekämpfen.
 
3. Die Kirchen. Die katholische Kirche in Saratow, die eigentliche Kathedralkirche des (deutschen) Bistums Tiraspol, die vorübergehend wegen nicht bezahlter Steuerrückstände geschlossen war, ist dank der im Frühjahr dieses Jahres durch das Internationale Rote Kreuz übermittelten Unterstützung vorläufig gerettet worden. Die oberen Sowjetbehörden haben die Steuerauflage überprüft und bestimmt, dass nur soviel zu erheben ist, wie die Kirche wirklich zahlen kann, dass aber die Rückstände zum grossen Teil abgedeckt werden müssen. Mit Hilfe der Unterstützung sind die Rückstände jetzt abgedeckt, sodass fürs erste die Kirche gesichert ist.
Der Geistliche der Kirche bemüht sich um einen Organisten, um den sonntäglichen Gottesdienst festlicher gestalten zu können, zumal die Kirche in Saratow ein vielbesuchter religiöser Mittelpunkt ist. Es wären monatlich etwa 200 Rbl. erforderlich, die jedoch die Kirche aus eigenen Mitteln nicht aufbringen kann.
Im deutschsprechenden Wolgagebiet sind 16 katholische Kirchen in neuerer Zeit wegen Steuerrückstände geschlossen worden. Sie sind der religiösen Benutzung nicht ganz entzogen und könnten jederzeit wieder in Gebrauch genommen werden, sobald die Steuern bezahlt sind.
Es handelt sich bei den einzelnen Kirchen um Beträge von 500-2000 Rbl.
 
4. Das religiöse Leben ist nach wie vor gut. Der Kirchenbesuch ist rege, ebenso die Teilnahme an den Sakramenten. Die Jugend wird im Elternhause religiös unterrichtet. Die Not der Zeit hat das Volk wieder beten gelehrt. Auch gegenüber den Parteimitgliedern hält man mit seiner religiösen Ueberzeugung nicht mehr zurück. Die Bauern bekennen sich offen zur Religion. Sie verlangen, dass man ihnen Gottesdienst hält. Wenn am Abend die Betglocke läutet, nehmen sie die Mütze ab und beten laut, auch wenn, oder gerade wenn Parteimitglieder dabei sind. Eine so demonstrative Frömmigkeit war früher dieser Bevölkerung nicht eigen.
Eine Gefahr für das religiöse Leben bieten die auf Betteln Herumstreunenden. Sie verlieren das religiöse Empfinden und kommen abgerissen und physisch und seelisch zerrüttet in die Heimatdörfer zurück.
 
 
Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1924-1935),
Pos. Scat. 28,
Fasc. 185,
Fol. 37r
 
 
Anlage 1
 
L i s t e
der auf die Solowetzki-Inseln verschickten katholischen Geistlichen aus dem Mittleren Wolgagebiet.
(Adresse: Solowki, Popow-Ostrow, I. Otdelenije)
(August 1933)
    1. Baumtrog Augustin, früher in Pokrowsk
    2. Kappes Aloysius, früher in Kamyschin
    3. Bellendir Adam, früher in Schuk
    4. Rauch Franz, früher in Rothamel
    5. Weigel Peter, früher in Marienthal
    6. Dornhof Alexander, früher in Rohleder
    7. Schönberger Andreas, früher in Seelman
    8. Riedel, Peter, früher in Schönchen
    9. Fix Martin, früher in Kohler.
    10. Paul Josef, früher in Neukolonie
Schulz Florian, früher in Wittmann, auch Soloturn genannt, der ebenfalls auf den Solowetzki-Inseln war, ist schwer erkrankt und befindet sich zur Zeit im Krankenhaus.
Adresse: Sewkrai, Stadt Kargopol, Krestjanskaja Uliza 34.
 
 
Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1924-1935),
Pos. Scat. 28,
Fasc. 185,
Fol. 38r
 
Anlage 2
 
L i s t e
Der verhafteten oder nach anderen Gegenden als den Solowetzki-Inseln verschickten katholischen Geistlichen aus dem Wolga-Gebiet.
(August 1933)
 
    1. Zimmermann Johannes, früher in Brabanta   Adresse: Samara
    2. Sill [Still] Michael, früher Urbach    Adresse: Kalinina Nr. 28
    3. Falkenstein Johannes, früher in Josefstal, jetzt Nowosibirsk, Krankenhaus G.P.U.Slak
    4. Schönfeld Jakob, Nowosibirsk
    5. Gareis Adam, früher in Pfeiffer    Adresse: Tambov
    6. Beilmann Johannes, früher in Seelmann    Uliza Darochowskaja 54
    7. Glassner Robert, früher in Dehler, Baschkirenrepublik, Busdjakski Rayon, Selo Starij Busdjak
    8. Desch Adam, 52 Jahre alt, in Astrachan, ist seit 2 Monaten verhaftet.
Ueber die Geistlichen  B e y e r ,  E b e r l e  Alexander,  O c h s  Aloysius ist nichts weiteres bekannt geworden.
Beilmann Josef, früher im Butyrki-Gefängnis in Moskau, wurde nach Murmansk verschickt und ist in Kem gestorben.

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 41, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=41, abgerufen am: 19.04.2024.
Ok, verstanden

Website nutzt Cookies, um bestmögliche Funktionalität bieten zu können. Mehr Infos