Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

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Dokument Nr. 78

6. Repression

Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1924-1935),
Scat. 28,
Fasc. 181,
Fol. 44r-47v

Datum: 21. September 1933
Verfasser: Alexander Frison
Empfänger: Michel d’Herbigny
Inhalt: Alexander Frison berichtet Michel d’Herbigny am 21. September 1933 über die Lage der Priester in Sowjetrussland, die Verdrängung der Geistlichen aus dem öffentlichen Leben und die steigende Gefahr der Verfolgung für Priester. Frison leide keinen Hunger “dank dem H. Neffen” – ein Codewort für Neveu.

 C o p i a
Lettera di S. E. Mons. Frison a S. E. Mons. D’Herbigny del 21 sett. 1933 (L’originale fu ritenuto da Mons. D’Herbigny; la traduzione si trova nella pos. 507/ 28)
 
Laudetur Jesus Christus!
 
Reverendissime,
 
Seit längerer Zeit werden Eure Bischöfliche Gnaden von mir auf Nachricht warten; doch es ging ja nicht, wie ich gerne gewollt hätte, wie Sie das gut wissen.
Über den Stand der Verwaltung der Ap. Administratur Ihnen ein richtiges Bild zu geben, ist mir unmöglich. Die spärlichen Nachrichten, die mir Pr. Kruschinsky geben kann, lassen mich ja selbst im Unklaren. Übrigens ergeht es wohl ja jedem Priester wie mir. Man muss zu Hause sitzen und darf sich nicht zucken. Es ist mir unmöglich gemacht, auch nur einen Schritt auf die Dörfer zu machen, die zu meiner Pfarrei gehören. Nirgends darf ich hinkommen, ohne die betreffende Registration vorweisen zu können. Die Behörden chikanieren, wo sie können: ich werde von einer zur anderen gewiesen, und überall sagt man: „Das geht uns nichts an“, oder: „Das ist Sache der Gemeinde, diese müsse Sie registrieren lassen“. Nun hat man aber die Gemeinden so eingeschüchtert, dass niemand den Mut hat, seine Unterschrift auf ein betreffendes Bittgesuch zu setzen, da man beständig mit Repressalien droht. So muss ich denn hier ruhig sitzen und abwarten, bis jemand zu mir kommt. Das ist aber auch fast unmöglich gemacht. Die Kollektivwirtschaft anerkennt keine religiösen Bedürfnisse, gibt keine freien Tage in der Arbeitszeit, stellt keine Fuhrwerke zur Verfügung, um etwa eine Trauung oder Taufe vornehmen zu lassen. Die Kranken auf den Dörfern sterben alle unversehen, da ich nicht kommen darf und kann, und die Leute nicht hierher kommen können. Früher hat man hie und da noch Kranke auf dem Fuhrwerk gebracht, und ich habe manche versehen bei mir in der Wohnung, oder in der Kirche; jetzt ist das ganz weggefallen. Das ist auch das Los meines nächsten Nachbars, der auf einem kleinen Dörfchen sitzt und die umliegenden Dörfer nicht besuchen darf. Ja man macht ihm den Prozess, weil er einigemal es gewagt hat, mit Pferden zu fahren, die dem Kollektiv gehören; aber immer hat die Verwaltung sie gegeben. Er soll nun Schuld daran haben, dass  d i e  Pferde schwach wurden und nicht in die Arbeit eingestellt werden konnten, wie man es erwarten wollte. Dass aber kein Futter für die Pferde da war ausser Stroh, kommt dabei nicht in Betracht. – Wie man die Leute in die Irre führt, möge folgender Vorfall zeigen. Zu meiner Pfarrei gehört ein grosses Dorf, Kronental, mit einer schönen katholischen Kirche und auch einer lutheranischen. Nun gingen die Lehrer von Haus zu Haus mit Bittgesuchen, die den Leuten vorgelegt wurden zur Unterschrift; das eine – die Kirche zu schliessen das andere – für das Weiterbestehen. Man stellte die Forderung, eines  d e r  Schriftstücke zu unterzeichnen. Wollte jemand für das Weiterbestehen unterzeichnen, so drohte man mit Sibirien mit Ural etc., so dass die meisten so in die Enge getrieben das Bittgesuch für die Schliessung unterschrieben. Nur wenige hatten die Geistesgegenwart, um überhaupt nicht zu unterschreiben, was das Richtige gewesen wäre. Bis jetzt ist die Kirche noch nicht weggenommen, aber man lasst auch keinen Gottesdienst halten. Dasselbe wurde auch in einem anderen Dorf, Karamin, getan. So werden die Leute durch Schwindel und Trug um ihre Kirchen und schliesslich um ihren Glauben gebracht. Bei Odessa und Nikolajew ist, wie es scheint, noch etwas mehr Freiheit. Dort kommen noch bei kirchlichen Feierlichkeiten einige Priester zusammen und dürfen auch Funktionen verrichten. – Wenn unsere Gläubigen teilweise mutlos werden und sich auch zu Schritten verleiten lassen, die man nicht gutheissen kann, so ist das nicht zum Verwundern. Die Not ist groß der Druck stark der Spott grenzenlos. Viele wurden schon verschickt, und ein großer Teil von ihnen ist schon zu Grunde gegangen. Die Briefe vom Ural, von Archangelsk, von Sibirien  s i n d  herzzerreissend und schauerlich, so dass der Gedanke allein, dorthin verschickt zu werden, die armen Leute zu allem bereit macht, was ihnen nur vorgelegt wird. Die Not war in diesem Jahre sehr gross. Monatelang haben sich die Leute durchgeschlagen ohne ein Stückchen Brot, ohne ein Gramm Fett. Es gab auch Fälle, wo Leute verhungert sind, doch nicht sehr viele. In der Ukraine war es aber schrecklich. In Speier waren bis zum 6. August (vom 1. Jan.) 226 Tote, in Sulz 205, in Karlsruhe 108, in Landau 91, während früher kaum 10% von diesen waren. Das machte der Hunger und seine Folgen. Bei uns haben sich im Frühling die Brotlosen fast ausschliesslich von Gemüse und vom Grün genährt. Viele, die aufs Feld gezwungen wurden, haben sich Körbchen Akazienblüten mitgenommen und damit das Leben gefristet und dabei gearbeitet. Das waren nicht vereinzelte Fälle. Später kam dann Salat und Sauerampfer, darauf Kohl und Gurken. Das konnte natürlich keine Kraft geben, erhielt aber das Leben. Die Armen sahen auch danach aus. Ich hatte öfter Gelegenheit, einen oder den anderen zu sehen, wenn sie in die Stadt kamen. Sie waren kaum zu erkennen, wandernde Skelette, Haut und Knochen; man muss sich nur wundern wie sie überhaupt noch arbeiten konnten. Und das mussten sie, wollten sie nicht ganz zugrundegehen. Als es mal Aehren gab, wurden die Felder streng bewacht, damit es niemand wage, Aehren zu pflücken, es war unter schwerer Strafe verboten. Ebenso durfte beim Dreschen niemand was nehmen. „Non ligabis os bovis terentis in area“ heisst es in der hl. Schrift. Hier waren die Menschen schlimmer daran. Und dann sagt man noch, man wolle die Menschen glücklich machen, die Kollektivmitglieder sollen wohlhabend werden. Das sieht nicht danach aus! Ährenlesen ist strenge verboten. Dafür müssen die Schulkinder aufs Feld und müssen die Ähren zusammenlesen, aber wieder für den Kollektiv. Die Ernte war ziemlich gut hier, doch bekommen viele Dörfer keinen Weizen; bis die Norm ausgefüllt ist bleibt nichts mehr. Meistens bleibt den Leuten Gerste und Mais. Und alle sagen: „Gott sei Dank, wir werden wenigstens nicht hungern“. Ein solcher Boden ist auch nicht mehr so geeignet für das religiöse Leben. Die Armen gehen ganz im Kampf für ihr Leben auf. Dazu kommt die Agitation von allen Seiten. Es ist zum Staunen, was da geleistet wird. Ich glaube, keine Partei auf der Welt arbeitet so für ihren Zweck wie diese. Vom Kinde angefangen bis zum Greis, vom Morgen bis Abend, in der Schule, in der Fabrik, auf dem Felde, auf der Strasse, auf der Eisenbahn, im Hause, mit einem Worte überall setzt die Agitation ein gegen Gott, gegen Kirche, gegen Sittengesetzte, gegen Privateigentum, gegen Geistlichkeit, gegen Familienleben, nur für sich, für  d e n  Staat und die Partei. Und der Erfolg ist nicht zu unterschätzen: die Schule ist ganz in ihrem Fahrwasser, die Sittlichkeit fällt zusehends, das Familienleben wird schon meistens auf ihre Prinzipien eingestellt. Es ist fast unglaublich, wie das 7. Gebot aus der Beobachtung geschwunden ist: in allen Kreisen wird gestohlen, dass man nur staunen kann. Man findet das ganz natürlich, man ist nur besorgt sich nicht fangen zu lassen. Auch unter dem gläubigen Volke hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass man  d e m  Staat, dem Collektiv gegenüber das 7. Gebot nicht mehr beobachten braucht. Und man kann ihm nicht ganz unrecht geben. Es gibt ja auch ein Gebot, den verdienten Lohn nicht vorzuenthalten. Der Sonntag ist ja bekanntlich aus dem Kalender gestrichen. Es gibt nur mehr Ruhetage, immer der 6. Tag. Leider musste ich schon viele ganz gute Gläubige treffen, die nichts mehr wissen von den Wochentagen, speciell vom Sonntage, besonders die Männer, die man fast nie in der Kirche sieht, auch wenn der Ruhetag auf den Sonntag fällt.
Von mir persönlich kann ich mitteilen, dass es mir ganz gut geht. Meine Gesundheit ist in gutem Stand, und dank dem H. Neffen leide ich keinen Hunger. Ereignisse gibt es immer wieder, die auf die Nerven wirken und auch ihre Spuren zurücklassen. So wurde mir am I. Juli die Wohnung gekündet [gekündigt] und nur eine Frist von Tagen gegeben. Da aber eine Wohnung unmöglich zu finden war, musste ich in einer Holzscheune vorlieb nehmen und gerade zur Regenzeit, so dass das Wasser von oben und unten und von den Seiten kam. So vergingen drei Wochen, und ich kann noch von Glück sprechen, dass ich eine Wohnung fand, die sogar viel besser ist als die frühere, und die Wirte viel anständigere Leute sind, als jene. Der hl. Antonius von Padua hat geholfen, ich habe fleißig zu ihm gebetet. Es war schwer, besonders weil gleich viel zu zahlen war. Es ist ein bisschen weit zur Kirche, etwa Minuten, halb auf der Trambahn. – Unsere Kirche wurde uns ja auch weggenommen. Früher waren wir zu nahe bei dem Regierungsgebäude, und das Kreuz wirkt ja auf gewisse Kreise, wie das rote Tuch auf gewisse Tiere. So wurde uns nahegelegt, in eine jüdische Synagoge, die schon früher geschlossen war, und in einem obscuren Winkel der Stadt liegt, überzusiedeln. Am 2. Januar hielt ich zum letzten Male hl. Messe in der alten Kirche und schloss mit „Grosser Gott, wir loben dich“, am 3. Januar celebrierte ich schon in der Synagoge. Wir sind aber jetzt ganz zufrieden, denn wir sind ganz allein im Hof und niemand stört uns. Es ist nur ein bisschen auf der Seite, und die Gläubigen, die von auswärts kommen, finden uns schlecht. Am I. November 1932 brachte eine Mutter ihren Knaben von 7 Jahren in die Kirche und bat ihn zum Messedienen zuzulassen. Ich schickte ihn an den Katafalk nach den Kerzen zu sehen. Aus diesem wurde später ein Lärm erhoben. Im Mai dieses Jahres stand ich vor dem Untersuchungsrichter, und man beschuldigte mich alles möglichen: ich teile Semel [Semmel] aus und Geld  a n  die Knaben, werbe Knaben zum Messedienen, habe noch andere Knaben in der Kirche; das sei strafbar nach par. I22 des Kriminalgesetzbuches, der lautet Religionsunterricht in den Schulen oder Staatlichen Anstalten wird mit Zwangsarbeiten bis zu einem Jahre bestraft. Als ich die Bemerkung machte, der par. [Paragraf] passe nicht für mein Vergehen, wurde mir gesagt: „Wir haben keinen anderen, wir werden diesen schon zu deuten wissen“. Am II. Juli sollte das Gericht sein, ein öffentliches, demonstratives, nicht im Gerichtssaal sondern im Klub; wurde verlegt auf den 14. Juli, dann wurde es dem Obergericht übergeben. Man wollte aus der Sache eine antireligiöse Demonstration machen, besann sich aber eines Besseren, denn es war gar nichts da. Am 26. August kam die Sache zum Verhör beim Volksgericht, und das Urteil lautete: „Da keine Beweise vorliegen, bleibt die Sache ohne Folgen“. Aber eine Warnung wurde mir gegeben, nicht wieder Semel [Semmeln] und Geld auszuteilen. Logik ist ja keine, man kann auch nicht verlangt werden, da mein Richter ein Mädchen von 23-25 Jahren war und ganz ungebildet zu sein scheint. Wie viele Aufregungen und Nerven hat es gekostet und schliesslich auch Ausgaben, da ich mir einen Verteidiger nehmen musste!  S o  wird uns das Leben bitter gemacht, nicht nur mir, sondern jedem anderen auch. Im Norden bei Saratow hat z.B. P. Herman eine offizielles Schreiben erhalten: „Wittmann den 30/V.33. Der Dorfrat von Witmann schreibt dir vor, du musst im Verlauf von 2 Stunden, dass du das Dorf reimen muhst, witrickensfalls mir adminsdradive Masregel ergreifa. Vorsitzender des Collectiv. Sekreder.“ In der Saratower Administratur sind 5 Priester aus der Verbannung zurückgekehrt, wurden aber aus der sogenannten Deutschen Republik ausgewiesen, so dass sie in verschiedenen Städten herumsitzen, auch bei uns leider nicht angestellt werden können. Es ist überhaupt fast unmöglich, jemanden auf eine andere Pfarrei zu versetzen. Bei uns ist Canonicus Neugum aus Odessa zurückgekommen. Er wollte seinerzeit über die Grenze fliehen, wurde aber ertappt und verschickt. Im Juli kam er wieder zurück und durfte wieder nach Odessa an seine frühere Stelle, was fast nie geschieht. Er hat kein Wort geschrieben oder angefragt weder bei mir noch Prälat Kruschinsky und auch jetzt versteht er es als selbstverständlich, kein Wort zu verlieren, sondern an seine Stelle zurückzukommen und den Kollegen, der ihn ersetzte, zu verdrängen. Ich bitte, seinen Berichten etwas skeptisch gegenüber zu stehen. Mit dem 8. Gebote steht er in keinen freundschaftlichen Beziehungen. – In letzter Zeit sind von zwei Priestern Anfragen ergangen, ob sie nicht auswandern dürften. Sie hatten einen Modus im Auge. Ich habe abschlägige Antwort gegeben. Im Zusammenhang damit möchte ich anfragen, wie ich mich bei solchen Gesuchen verhalten soll. Darf ich eine solche Erlaubnis erteilen, oder ist dem Gesuche abzusagen auch von solchen Priestern, die voraussichtlich nicht mehr angestellt werden können? Sollen  s i e  besser im Lande bleiben? Ich möchte auch bitten um die Vollmacht, im Falle der Not nur im Superpelicium ohne Kerzen, ohne Portatile, ohne Kelch Messe lesen zu dürfen, diese auch anderen erteilen zu dürfen. – Bitte um die Vollmacht, die Erlaubnis geben zu dürfen, für mehrere Stipendien eine hl. Messe zu lesen, bis zu 15 Rubel, da unser Rubel keinen Wert hat. – Bemerken möchte ich noch, dass der General-Konsul von Italien in Odessa hier am nötigen Ort vorsprach und es wurde mir die Erlaubnis erteilt, nach Kertsch zu fahren periodisch um die Italiener daselbst zu betreuen. – Haben Revendissimus die Ehesache erhalten die ich am 20 August auf die Post gegeben habe?
Ich bitte den Heiligen Vater um den Segen in diesem heiligen Jahre, das bei uns grösstenteils verkündigt ist, für mich, für alle Geistlichkeit und alle Gläubigen. Wir sind im Geiste vereint mit den vielen Rompilgern und knien mit ihnen zu seinen Füssen.
 
In aller Ehrfurcht zeichnet Eueren [Euern] Bischöflichen Gnaden gehorsamster und ergebener
(unterzeichn.) Alexander Frison
 
21 September 1933
Lymirensis

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 78, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=78, abgerufen am: 28.03.2024.
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